Neun Monate by Quadflieg Roswitha
Autor:Quadflieg, Roswitha [Quadflieg, Roswitha]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Aufbau Digital
veröffentlicht: 2015-05-09T16:00:00+00:00
Dritter Monat
Zunächst wieder Freiburg. Mehrmals pro Woche telefoniere ich mit S. und M. und mit dem Heim. Dort höre ich, dass es jetzt richtig schwierig werde mit ihr, weil sie jeden, der das Zimmer betritt, herumkommandiere. Manch einer vom Team weigere sich schon, zu ihr zu gehen. Sie wolle auch nicht einsehen, wie irrsinnig es sei, für maximal eine Stunde am Tag Stützstrümpfe anzuziehen. Länger halte sie sich aber nicht mehr außerhalb des Bettes auf. Und jeder stelle sich logischerweise die Frage, wozu dieser Aufwand?
Bei meinem nächsten Besuch erklärt sie mir jedoch, dass sie kein Mensch mehr sei, wenn sie nicht wenigsten einmal am Tag Strümpfe und Schuhe anziehe – was wäre dagegen einzuwenden? –, und überhaupt brauche sie mehr Zuwendung.
Ihre Puppe heißt jetzt Gotteskind und nicht mehr Brise, sie hat sie umgetauft. Nach wie vor spielt sie hier eine enorme Rolle. Niemand darf sie umsetzen. Nur meine Freundin S. aus Kiel, eine Übersetzerin, die auch Schwedisch spricht, darf Gotteskind während ihres Besuchs im Arm halten. Ich mache ein Foto von den dreien. Sie lachen. Aber in den Augen meiner Freundin und meiner Mutter sehe ich Tränen.
Wir versuchen die Situation für alle zu entschärfen, organisieren eine Extrapflege. Für die ich zusätzlich zahle. Jetzt kommt morgens eine weitere Pflegekraft, versorgt die anderen Heimbewohner, während die Pflegedienstleiterin sich genügend Zeit für meine Mutter nehmen kann, die sie jetzt sogar beim Vornamen nennen darf. Trotz aller Schroffheit, die hier herrscht, fangen die beiden an, sich zaghaft zu lieben.
Bei meinem nächsten Besuch teilt meine Mutter mir mit, sie habe in ihrem Bistro Schokolade und Pralinen, die Mädchen hier freuten sich immer, wenn sie ihnen ab und zu etwas davon gebe.
Mal wieder die Gutsherrin, die sich ihrem Personal gegenüber gütig zeigt. Hast du eine Ahnung!, denke ich.
Adventszeit! Das ganze Haus steckt voller Süßigkeiten. Niemand vom Pflegepersonal mag das Zuckerzeug mehr sehen. Auch Frau O. bekommt jetzt täglich neues Naschwerk geschickt und isst kaum noch davon. Was meinen Verwandte und Freunde eigentlich, was für einen Sinn das macht, ihre Alten in der Vorweihnachtszeit derart mit Süßigkeiten zu überschütten? Geradezu grotesk, die beiden schlafenden, leise vor sich hin schnaufenden Damen in ihrem Meer aus Schleifen und Buntpapier.
Mein älterer Bruder kommt nach einer Weihnachtsfeier vorbei, malt meiner Mutter das üppige Buffet aus, schwelgt von zwei Sorten Erdbeeren, wovon er ihr eine kleine Menge mitgebracht hat. Einer süßen und einer herben. Soll sie staunen?
»Welche von beiden möchtest du probieren?«
Sie kann sich nicht entscheiden, wartet ab, bis er gegangen ist, und lässt das Körbchen mit den roten Früchten unbeachtet stehen.
Ob es nicht besser sei, schlage ich ihr vor, all die Süßigkeiten aus dem Bistro gleich weiterzuverschenken, anstatt sie aufzuheben? Vielleicht an die Köchin oder an die kleine Tochter der Putzfrau. Ein blondes Mädchen, das manchmal durchs Haus geistert, die Tür öffnet und altkluge Sätze sagt. Heftiger Protest! Sogar sortieren muss ich das Vorhandene, die dunkle Schokolade beiseitelegen, die sei gut fürs Gehirn! Den Rest muss ich wieder in der mittleren Schublade verstauen.
Im Frühjahr hebe ich heimlich die inzwischen verdorbenen Schätze und werfe sie in den Müll.
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